


Kunstjournal 2025
Max Hari: Schauer. Sechsundsechzig Zeichnungen. Bern 2006.
Zum Jahresanfang 2025 verweise ich ganz ohne Kommentar auf etwas Unvergessenes und sogar Unvergessliches:
Die Kantonale Kommission für Kunst und Architektur hat 2006 einen Schuber mit sechsundsechzig Zeichnungen des Künstlers herausgegeben. Im Original haben die Zeichnungen ein Format von 76 x 107cm, im Schuber ein Format von 32 x 45cm.
Kunstjournal 2024
El Anatsui: Behind the Red Moon. Turbine Hall, Tate Modern, London 2024
Die Turbinenhalle der Tate Modern in London, dieses urbane, rohe, brachiale historisches Gedicht, zieht immer wieder in Bann. Über der leicht abfallenden Rampe hoch oben ein stahlverstrebter Industriehimmel mit Lichteinfall wie durch Milchglas. Rampe und Himmel grau, schwarz, schlammfarben. Dunkler Stahl, gebrauchspolierter Stein. Alles schwer und monströs gross.
Aktuell hängt In dieser Eingangshalle aufgespannt ein rotes Segel. Auch dieses Gewebe von gigantischer Grösse. Und überschwänglich im Rot: blutrot, braunrot, bläulich rot, orange, purpurn, violett und tiefrot, tief rot und überdies rotgolden. Es glänzt. Noch nie habe ich etwas Ähnliches in solch einer Materialität, Proportion und Farblichkeit gesehen. Die Rucksackkontrolle am Eingang ist vorbei, aber ich kann nicht weitergehen vor diesem Tuch und Rot. «Ein Tuch?», lacht die Polizistin und schubst mich auf der Rampe voran. «Ein Tuch?!» Schönheit kann paralysieren. Ich stolpere weiter und drehe mich auf der Rampe um.
Das überirdische Segel ist auf der anderen Seite lichtdurchflutet gelb, in unregelmässigen Falten und Formen fahlgelb, lachsfarben, pink im Schattenwurf, transparent und auch wieder nicht, oszillierend.
Was von Auge nicht sichtbar ist, darüber klären Schrifttafeln auf: Anatsuis Prunk-Gewebe besteht aus Flaschendeckeln. Weggeworfenes Industriegut, Abfall des Massenkonsums wurde in handwerklicher Kleinstarbeit zur majestätischen Installation. Ganz ohne Seide und Gold entwickelt die künstlerische Transformation strahlende Opulenz – und sie ist keine Einzelleistung.
Das Tuch oder Segel erzählt unter anderem vom blutigen Schatten der Geschichte und weltpolitischen Gegenwart und ebenso von der menschlichen Kleinstarbeit, dem Schatten unbeirrbar mit lächerlich erscheinenden Mitteln zu trotzen. Genauer: Die Installation materialisiert dieses Narrativ. Ach, der rote Vollmond im Kernschatten der Erde. Ich würde kapitulieren ohne das Wissen um die Perspektive «Behind the Red Moon».
Kunstjournal 2023
Berlinde de Bruyckere: Speakless grey horse. Kunsthaus Zürich, Juli 2011.
Kunsthäuser an einem regnerischen Sommertag in den Ferien, überall auf der Welt: Schlangen vor der Kasse und der spontane Impuls, der musealen Kunst sofort und ohne Bedauern den Rücken zu kehren. Ich bin für einmal geblieben, habe meinen Beuys in anderen Zusammenhängen als der berühmten Fettecke und den bekritzelten Wandtafeln gesehen. Fett flüssig als Olivenöl dies Mal, in unzähligen Flaschen aufgereiht, den Meister selbst auf Fotos, wo er Bäume pflanzt, den Meister in von ihm in Auftrag gegebenen Metallschreinen (Wie kann man nur so von sich selbst überzeugt und hingerissen sein, dass man bei lebendigem Leib und ebensolchem Bewusstsein schwere Ausstellungsmöbel für eigene Fotografien anfertigen lässt?), den Meister auf Plakaten – den Joseph Beuys (auch das ist mir erstmals aufgefallen) mit seinem allzu frühen Tod. Etwas über sechzig ist er geworden. Ich habe mich schnell und leicht von ihm verabschiedet. Sein unverschämtes Lachen hat mir gefehlt. Die wiederholte Selbstinszenierung mit Hut im Stile des greisen und peinlich-eitlen Armani hingegen kann mich nicht interessieren.
Sammlungsstücke jetzt, man kommt nicht darum herum, zieht im Kinder- und Touristengetümmel an ihnen vorbei, sieht Bemerkenswertes wie Die Rache des Achilleus (grossformatige Skizze in Oel, bleistiftartige Schriftzeichen, die sich zur blutroten Speerspitze verengen) und dann endlich das Speakless grey horse von Berlinde de Bruyckere. Wie es da liegt. O Fallada!, du hängst nicht, du liegst auf dem nackten Museumsboden auf deiner Seite, dein Kopf ist weg, deine Beine sind Stümpfe, du hast keinen Schweif und feine, genähte Narben da, wo deine Gestalt versehrt ist. Das Darstellungsformat ‚Torso’ ist mir bestens bekannt, aber hier liegt keine Frau, kein Mann, sondern ein Pferd. Du liegst als zu Fall gebrachte Kreatur. Pegasus, Arbeitstier, Rennpferd. Stark und in der ganzen Schönheit des schlanken Halses und der Mähne und den Schultern und Flanken und der Oberschenkelstümpfe liegst du für immer als im Lauf Niedergestreckte da, sprichst sprachlos und ganz ohne Pathos von dir genommenen Bewegungen und Möglichkeiten. Deine fahlfarbene Pferdehaut ist tadellos präpariert, die Muskeln sind geformt, die Mähne unsterblich gemacht. Diese Mähne am liegenden Pferdehals, die fliegen könnte und fliegen müsste bei jedem Wetter, die mal filzig, stumpf und in Strähnen, mal kraus, mal lichtglänzend einen lebendigen Hals umspielt hat, ist Material geworden. Man möchte es anfassen, das zur Strecke gebrachte Leben im schweren, gesunden Pferdeleib – und bei sich selbst. Das plötzliche Innewerden eines Skandalon. Die Skulptur von Berlinde de Bruyckere schwemmt Wärme für das Lebendige und heissen Widerstand gegen das auf, was zu Boden wirft, Hände und Füsse abhackt, den Kopf sogar, die Bewegung und den Laut. Das Niederstrecken blosslegen, blossstellen, anklagen, zurückweisen. Wenn Kunst das kann, kann sie’s selbst an einem regnerischen Sonntag in den Ferien in einem überfüllten Kunsthaus.